Mein Kanadaaufenthalt liegt zwar schon eine Weile zurück, aber am Tag vor meiner Verletzung hatte ich die einmalige Gelegenheit, bei Norco in Port Coquitlam (bei Vancouver) vorbeizuschauen und einen Hausbesuch zu machen. Diese Chance ließ ich mir natürlich nicht entgehen.
In einem unscheinbaren Industriegebiet am Fraser River steht einer der beiden Hauptsitze von Norco Kanada. Es gibt einen Hauptsitz für die Ostküste sowie einen an der Westküste. Die Entwicklungsabteilung sitzt im Westen. Meine Erwartungen und meine Neugier waren hoch, es sollte ein aufschlussreicher Vormittag werden, doch lest selbst…
Norco feierte dieses Jahr sein 50-jähriges Jubiläum und kann sich mittlerweile als weltweit operierende Marke bezeichnen. Die „kleineren“ Anfangsjahre sieht man dabei als Schlüssel zum Erfolg an: Als kleinere Firma konnte man schnell auf das reagieren, was der Kunde wollte und teilweise sogar selbst Richtungsweisend sein. Mit das beste Beispiel dafür ist der 1991 vorgestellte erste Mountainbikerahmen, der für Federgabeln ausgelegt wurde.
Inzwischen hat sich Norco weiterentwickelt und ist ein nicht unbedeutender Hersteller aller Arten von Fahrrädern, doch die Firmenphilosophie hat sich nicht verändert.
Man versucht nach wie vor, auf das einzugehen was der Kunde will, egal ob kleine Veränderung oder Neuentwicklung. Das ganze mündet in einen aufwendigen Entwicklungsprozess. Es wird ein Lastenheft mit den Eigenschaften des neuen Bikes erstellt, anhand dessen man die Schwerpunkte festlegt. Abfahrtslastig, kletterfreudig – wenn irgendwie möglich beides zusammen. Auf den Entwicklungsprozess und wie die Philosophie von Norco sich in ihren Produkten wiederspiegelt will ich im Weiteren etwas näher eingehen.
Sehr viele Faktoren bestimmen die Eigenschaften eines Bikes. Jeder will DAS perfekte Bike und natürlich sollten nur die besten Anbauteile verwendet werden. Doch ohne ein fähiges und durchdachtes Grundgerüst können selbst die besten Parts nicht ihre volle Funktion entfalten. Deswegen fängt alles mit dem Kern eines jeden Fahrrads an: dem Rahmen.
Von der ersten Idee bis zum Endprodukt ist es ein langer Weg. Dieser beginnt nicht einfach so in einem Büro, er ist das Resultat aus einer besonderen Firmenkultur. Quasi jeder Mitarbeiter ist fahrradbegeistert, ohne würde es wahrscheinlich gar nicht gehen. Die Kombination von Begeisterung für den Sport und einem hohen Fachwissen der Mitarbeiter sind eines von Norcos Erfolgsrezepten.Vom Pendler bis zu dem, der in der Mittagspause auf eine Trailrunde geht oder dem, der am Wochenende die zwei Stunden nach Whistler in den Bikepark fährt, jeder lebt den Radsport. Dadurch ist man nicht nur sehr nah am Endkunden, sondern Teil der Szene und man erkennt was gefragt ist bzw. gebraucht wird.
Ich behaupte, dass jeder, der sich eingehend mit seinem Rad beschäftigt, das Gefühl kennt, dass man während man auf seinem Rad sitzt oder daran schraubt immer wieder Kleinigkeiten findet, die man ändern und verbessern möchte. Genau so entstehen auch viele der Ideen bei Norco. Mit diesen Hintergedanken kommt man ins Büro und setzt sich damit auseinander. Ist es eine persönliche Vorliebe oder macht es Sinn für jeden Fahrer? Wenn es jedem etwas bringt, dann geht es einen Schritt weiter: Wie kann man die Idee umsetzen? Kann man ein Detail einer bestehenden Plattform verändern und anpassen oder ist die Idee so radikal, dass es eine Neuentwicklung erforderlich macht?
Der Rahmen wird entworfen. Dabei hat man wieder viele Gestaltungsmöglichkeiten. Selbst wenn die Geometrie festgelegt ist, kann das Fahrrad noch viele Formen annehmen. Verwendet man Hydroforming oder nur gerade Rohre. Wenn man ein Fully baut muss man den Federweg festlegen. Dieser Wiederum beeinflusst viele Faktoren. Mehr Federweg bedeutet im Allgemeinen eine härtere Gangart im Gelände. Für ein abfahrtslastiges Bike sollte man genug Platz für einen langen Dämpfer einplanen, um ein möglichst geringes Übersetzungsverhältnis zu erreichen. Außerdem muss man abwägen, ob man Platz für einen großvolumigen Dämpfer (mit Ausgleichsbehälter) wie einen CaneCreek DoubleBarrel Air oder einen Rock Shox Vivid Air schaffen kann/ will. Die Lage des Dämpfers beeinflusst zudem den Schwerpunkt des Bikes. Generell gilt: je tiefer und zentraler der Dämpfer und damit auch der Schwerpunkt, desto besser. Der Dämpfer ist ein wichtiges Bauteil, das man möglichst schützen will. Die Lage ist auch hinsichtlich des Schutzes vor Wasser und Dreck entscheidend.
Das Gewicht der Fahrräder ist in den letzten Jahren deutlich gesunken. Doch Gewichtsreduktion um jeden Preis darf nicht betrieben werden. Je nach gewünschter Steifigkeit muss man größere Wandstärken bzw. Durchmesser bei den Rohren verwenden und die Lager entsprechend dimensionieren.
Norco setzt auf eine enge Zusammenarbeit mit den Erstausstattern ihrer Räder. Nur wenn man sich rechtzeitig auf veränderte oder neue Anbauteile wie große Dämpfer oder die mehr und mehr vertretenen Teleskopsattelstützen wie eine Rock Shox Reverb Stealth einstellen kann, kann man an den Rahmen den nötigen Platz schaffen oder die nötige Zugführung anbringen. Hierbei wird man aber immer auch im Hinblick auf das Lastenheft eines Modells manche Teile nicht kompatibel machen: Es macht zum Beispiel keinen Sinn an einem Rennrad eine Teleskopstütze zu montieren oder an einem CC-Marathon Fully Platz für einen Downhill-/ Endurodämpfer wie den CCDB zu schaffen.
Die engen Kontakte zum Erstausstatter sind auch deshalb nötig, um frühzeitig die Ausstattungen für das nächste Modelljahr festlegen und auch entsprechend planen zu können.
Wenn der Entwurf soweit fertig ist wird eine Vielzahl von Computersimulationen durchgeführt. Diese decken schon frühzeitig eventuelle Fehler auf und ermöglichen schon in einem recht frühen Entwurfsstadium einige wichtige Rückschlüsse auf die Funktionsweise und Eigenschaften eines Rades zu machen. Erst wenn diese Simulationen zufriedenstellend sind, wird der erste Prototyp gebaut. Verlaufen die Tests positv, wird eine kleine Pilotserie gebaut, welche dann aufs ausgiebigste getestet wird. Bei den Tests vertraut Norco auf ihr Motto: „In der Heimat entstanden, im Ausland bewährt.“ Mit einem solch harten und rauen Testgelände wie der North Shore ist dies auch nicht verwunderlich. Nicht zu vergessen ist jedoch, dass auch eng mit den Teamfahrern zusammengearbeitet wird, um die Räder am Limit zu testen. Erst wenn ein Prototyp absolut allen Ansprüchen gerecht wird, geht er in Serie.
Eine Besonderheit der Norco-Bikes ist der sogenannte Gravity-Tune: Mit wachsendem Hauptrahmen wächst auch der Hinterbau proportional mit. Dies führt dazu, dass der Fahrer ungeachtet seiner Größe die gleiche Balance und Position auf dem Rad hat und er damit seinen Schwerpunkt nicht durch einen längeren Hauptrahmen unfreiwilliger Weise nach hinten verlagert. Ich selbst konnte diese Besonderheit aufgrund meiner Verletzung leider nicht mehr selbst testen, doch ich will dies auf jeden Fall noch nachholen.
Carbon ist auf dem Vormarsch, auch bei Norco. Die Vorteile von Carbon in Bezug auf Steifigkeit und Gewicht kann man nicht einfach ignorieren. Es bringt aber auch neue Herausforderungen. Beispielsweise ist das Aurum Carbon das bisher zeitaufwendigste Entwicklungsprojekt von Norco. Was mir vor meinem Besuch noch nicht bekannt war ist, dass Norco auch im Rennradsektor sehr stark vertreten ist und ein Großteil der Entwicklungsarbeit auch in diesen Bereich geht, natürlich auch mit Carbon als Werkstoff.
Egal ob Alu oder Carbon, Norco wird uns weiterhin mit genialen Bikes versorgen.